Der Wunsch, ganz zu sein

Wonach sehnen sich die Menschen eigentlich? „Es ist der Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben“, diese Antwort der evangelischen Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle (1929-2003) hat mich beeindruckt.

Wonach sehen Sie sich? Wonach sehne ich mich?

Ja, ich sehne mich nach Heil-Sein, danach, innerlich ein Zufrieden-Sein zu spüren, mit sich im Einklang zu sein, nach Gesundheit, nach erfüllten Beziehungen, nach Nähe, nach Leben und Lebendig-Sein. Das alte Wort der religiösen Sprache „Heil“ drückt genau dieses Ganz-Sein, Unzerstückt-Sein, Nicht-kaputt-Sein aus. Ich glaube, dass es in uns Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Ganzheit, nach Ganz-Sein gibt, man mag es vielleicht auch anders nennen. Wir sehnen uns danach, dass alles passt, dass nichts fehlt, dass „die Dinge rund laufen“ — wie es landläufig so passend zum Ausdruck gebracht wird. Und meines Erachtens ist es zugleich auch der Wunsch nach einem Leben ohne Angst, ohne äußere und bereits verinnerlichte Kontrolle; ein Leben, wo ich vertrauen, hoffen und glauben kann, dass ich gehalten, getragen, ja behütet bin, wie ich es jetzt so oft zu hören bekomme.

Und ich weiß, es gibt kein Leben ohne Scherben, ohne Brüche. Gerade in dieser Zeit merken wir, wie zerbrechlich und verwundbar Leben ist, wie vergänglich. Wir können es nicht machen, unser Leben ist ein Geschenk. In der englischen Sprache heißen diese Scherben „Fragmente“. In jeder Lebensgeschichte gibt es Fragmente, Unvollkommenes, Misslungenes, Gestörtes und Zerstörtes; das Leben fügt uns Verletzungen und Wunden zu, in uns gibt es Verwundungen.

Dennoch gibt es eine Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit; ein Streben nach dem Ideal der Vollkommenheit: Wie wir sind, was wir tun, wie wir aussehen – es soll gelungen sein. Hanns Dieter Hüsch, Kabarettist vom Niederrhein, hat den Satz gesagt: „Zur menschlichen Würde gehört das Unvollendete. Ich bitte die Menschen, sich dies zu erhalten.“ Für mich heißt das: Es muss nicht alles vollendet und perfekt sein im Leben; auch das, was unvollendet bleibt, hat seine Bedeutung.

Meine Erfahrung ist, wer seine Wunden zeigt, sich traut auch das Unvollendete, die Bruchstücke seines Lebens zu zeigen, umso glaubwürdiger ist er, umso echter und unverwechselbarer. Wir werden diese seltsamen und bedrückenden Wochen nicht ungeschehen machen können, sondern die Zeit der Gesichtsmasken, der Ängste und Sorgen, der Verwundungen wird uns geprägt haben. Manches wird anders geworden sein, vielleicht bleiben wir verletzlicher und vielleicht wird der Wunsch, „ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben“ uns in Zukunft tiefer begleiten. Teilen wir es einander mit, um so tiefer bleiben wir einander verbunden.

Und ich glaube, all die Fragmente und alles Bruchstückhafte wird zu einem Ganzen zusammengeführt – das darf ich getrost Gott überlassen, wenn es soweit ist! Dieser Gedanke entlastet und beruhigt mich – bei all dem Unvollkommenen, bei all dem Zerbrechlichen in meinem Leben.